Das Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag vom 2. April 1908 (Versicherungsvertragsgesetz, VVG) wurde am 1. Januar 1910 in Kraft gesetzt. Das VVG regelt die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen den Versicherungsunternehmen auf der einen sowie den Versicherungsnehmern, Versicherten und Anspruchsberechtigten auf der anderen Seite. Zu der – von der Sozialversicherung zu unterscheidenden – Privatversicherung nach VVG zählen beispielsweise die Haftpflichtversicherung, die Rechtsschutzversicherung, die Lebensversicherung oder die Zusatzversicherung zur sozialen Krankenversicherung. Das über hundertjährige VVG ist heute in vielen Teilen nicht mehr zeitgemäss und war deshalb in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Gegenstand von Kritik in Literatur, Rechtsprechung, Politik und Öffentlichkeit.
Bereits am 1. Januar 2006 ist daher eine Teilrevision des VVG in Kraft getreten, welche den vordringlichsten politischen Anliegen nachkam. Geändert wurde nebst anderem Art. 6 VVG, welcher die Rechtsfolgen der Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers regelt. Nach der bis zum 31. Dezember 2005 geltenden Fassung von Art. 6 VVG konnte der Versicherer die Leistungspflicht ohne weiteres ablehnen, wenn der Versicherungsnehmer eine erhebliche und vom Versicherer vor Vertragsschluss abgefragte Gefahrstatsache nicht oder unrichtig mitgeteilt hatte (z.B. durch Nichtangabe bestehender Krankheiten oder erlittener Unfälle). Unerheblich war, ob die nicht oder nicht richtig deklarierte Gefahrstatsache einen Einfluss auf den Versicherungsfall hatte (z.B. Verweigerung der Versicherungsleistung in der Lebensversicherung, wenn der bei einem Unfall verstorbene Versicherungsnehmer eine Erkrankung nicht angegeben hatte). Neu gilt als Voraussetzung für die Leistungsverweigerung das Erfordernis eines Kausalzusammenhangs zwischen der nicht oder nicht richtig angezeigten Gefahrstatsache und dem Versicherungsfall (so genanntes Kausalitätsprinzip). Danach erlischt die Leistungspflicht des Versicherers nur für Versicherungsfälle, deren Eintritt oder Umfang durch die nicht oder nicht richtig angezeigte Gefahrstatsache beeinflusst worden ist. Im Weiteren wurde bezüglich der Versicherungsprämie der so genannte Teilbarkeitsgrundsatz eingeführt, wonach bei vorzeitiger Vertragsbeendigung die Versicherungsprämie grundsätzlich nur bis zum Vertragsende geschuldet ist, und nicht wie nach bisherigem Recht für die gesamte Versicherungsperiode. Zudem gelten seit 1. Januar 2007 auch für Versicherungsunternehmen vorvertragliche Informationspflichten (betreffend versicherte Risiken, Umfang des Versicherungsschutzes, Prämien und weitere Pflichten des Versicherungsnehmers, Laufzeit und Beendigung des Versicherungsvertrages, Berechnungsgrundlagen sowie Verteilungsgrundsätze und –methoden für die Überschussermittlung und die Überschussbeteiligung, Rückkaufs- und Umwandlungswerte, Bearbeitung von Personendaten).
Am 31. Juli 2006 wurde der Vorentwurf der Eidgenössischen Expertenkommission SCHNYDER zu einer Gesamtrevision des VVG veröffentlicht. Rund zweieinhalb Jahre später, im Januar 2009, hat die Bundesverwaltung die lang erwartete Vernehmlassungsvorlage präsentiert, welche sowohl inhaltlich als auch systematisch weitgehend dem Entwurf der Eidgenössischen Expertenkommission folgte. Am 13. Januar 2010 sind die Vernehmlassungsergebnisse veröffentlicht worden. Grundsätzlich wurde die Vorlage zur Totalrevision des VVG positiv aufgenommen. Teilweise sind aber auch Vorbehalte geäussert worden, beispielsweise zur vorgeschlagenen Einführung eines Widerrufsrechts für Versicherungsverträge oder zu den Vorschriften über die Versicherungsvermittlung. Im Auftrag des Bundesrates hat das Eidgenössische Finanzdepartment (EFD) zusammen mit der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA) die Regelungen zur Versicherungsvermittlung überarbeitet. Zur Beurteilung der wirtschaftlichen Folgen der geplanten Totalrevision wurde zudem eine Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) durchgeführt, deren Resultate das EFD am 14. Oktober 2010 publiziert hat.
Gestützt auf die Ergebnisse der Vernehmlassung sowie der RFA hat der Bundesrat einige Grundsatzentscheide für die Ausgestaltung der Gesetzesrevision gefällt. Unter anderem soll das neue VVG folgende Aspekte enthalten:
• Erweiterung der vorvertraglichen Informationspflichten des Versicherers;
• zweiwöchiges Widerrufsrecht für Versicherungsverträge;
• ordentliches Kündigungsrecht nach dreijähriger Vertragsdauer;
• Verlängerung der heute zweijährigen Verjährungsfrist;
• Transparenzvorschriften betreffend die Vermittlerentschädigungen.
Mit der Totalrevision soll das VVG zukunftsorientiert ausgestaltet und es sollen die Interessen von Versicherungsnehmern, Versicherten und Anspruchsberechtigten sowie Versicherungsunternehmen in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Die Botschaft wird für das zweite Halbjahr 2011 erwartet.
Dr. Andrea Eisner-Kiefer