Persönliche Erscheinungspflicht für juristische Personen im Zivilprozess

 

Im Zivilprozess hat sich eine juristische Person rechtswirksam vertreten zu lassen. Andernfalls drohen prozessuale Nachteile oder gar der materielle Rechtsverlust.

Seit dem Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), d.h. seit 1. Januar 2011, ist (auch) die Vertretung der juristischen Person im Zivilprozess bundesrechtlich geregelt. Zuvor war die Regelung kantonal, d.h. in jedem Kanton separat.

2014 und 2015 hat sich das Bundesgericht in den viel beachteten Entscheiden BGE 140 III 70 und 141 III 159 zur persönlichen Erscheinungspflicht juristischer Personen im Schlichtungsverfahren geäussert. Nach Massgabe von Art. 197 ff. ZPO geht dem gerichtlichen Entscheidverfahren in der Regel ein Schlichtungsversuch vor einer Schlichtungsbehörde voraus.

1. Persönliches Erscheinen juristischer Personen im Schlichtungsverfahren

Nach Art. 204 ZPO müssen die Parteien grundsätzlich persönlich zur Schlichtungsverhandlung erscheinen. Erscheint eine zum persönlichen Erscheinen verpflichtete Partei nicht oder nicht persönlich, so gilt sie als säumig und erleidet die in Art. 206 ZPO vorgesehenen prozessualen Nachteile. Eine dennoch erteilte Klagebewilligung wäre ungültig (BGE 140 III 73 f.). Dies kann für den Kläger unter Umständen zur Verwirkung eines Anspruchs oder Rechts führen. Der säumige Beklagte hingegen riskiert grundsätzlich nichts (Art. 206 Abs. 2 ZPO); Ausnahmen bestehen allenfalls bei Bagatellstreitigkeiten bis CHF 2'000 (Art. 212 ZPO: Entscheid) oder bis CHF 5'000 oder bei Miete und Pacht oder Gleichstellungsrecht (Art. 200 ZPO: Urteilsvorschlag).

Gemäss Bundesgericht werden juristische Personen in der Schlichtungsverhandlung primär durch die im Handelsregister eingetragenen Organe vertreten; diese haben einen Handelsregisterauszug vorzuweisen (BGE 141 III 159 E. 2.6), wobei ein aktueller Internetauszug genügen dürfte. Ein eingetragenes Organ, das laut Handelsregister nur über eine Kollektivunterschrift verfügt, kann die juristische Person in der Schlichtungsverhandlung nur gültig vertreten, wenn sie eine Vollmacht vorweisen kann, (1) die namens der juristischen Person rechtsgültig unterschrieben ist, d.h. typischerweise durch zwei Zeichnungsberechtigte mit je Kollektivunterschrift zu zweien, und (2) die das erscheinende Organ zum Abschluss eines Vergleichs ermächtigt.

Kann die juristische Person auch einen im Handelsregister nicht eingetragenen, mit dem Fall aber bestens vertrauten Sachbearbeiter oder einen bevollmächtigten, nicht eingetragenen leitenden Angestellten an die Schlichtungsverhandlung entsenden? Oder genügt ein faktisches Organ, welches zwar nicht nach Handelsregister, aber de facto die Gesellschaft leitet? Das Bundesgericht stellt bei der Beantwortung dieser Fragen auf zwei kumulative Kriterien ab:

- zum einen muss die entsandte Person über eine zivilrechtlich hinreichende Vertretungsbefugnis für die juristische Person verfügen; und

- zum anderen muss die Vertretungsbefugnis ausreichend dokumentiert sein, damit die Schlichtungsbehörde diese anlässlich der Verhandlung möglichst rasch und gestützt auf Urkunden verifizieren kann.

Daraus ist Folgendes abzuleiten:

a. Prokuristen (Art. 458 OR)

Die Teilnahme eines Prokuristen gemäss Art. 458 OR an der Schlichtungsverhandlung genügt dem Erfordernis des "persönlichen Erscheinens" im Sinne von Art. 204 ZPO, sofern die Prokura in Bezug auf die Prozessführung nicht beschränkt wurde.

Ist der Prokurist laut Handelsregister nur kollektiv zeichnungsberechtigt, benötigt auch er eine Vollmacht mit gültiger Firmenunterschrift und in jedem Fall einen Handelsregisterauszug.

b. Handlungsbevollmächtigte (Art. 462 OR)

Grundsätzlich kann sich eine juristische Person in der Schlichtungsverhandlung auch durch einen Handlungsbevollmächtigten im Sinne von Art. 462 OR vertreten lassen und dadurch im Sinne von Art. 204 ZPO persönlich erscheinen. Allerdings muss dem Handlungsbevollmächtigten die Ermächtigung zur Prozessführung – und mithin auch zur Teilnahme an der Schlichtungsverhandlung – ausdrücklich erteilt worden sein (Art. 462 Abs. 2 OR).

Eine Handlungsvollmacht gemäss Art. 462 OR ist nur gegeben, wenn der Handlungsbevollmächtigte die juristische Person nicht nur für ein einzelnes Geschäft, sondern für alle Rechtshandlungen vertreten kann, die der Betrieb der juristischen Person oder wenigstens die Ausführung gewisser, zahlenmässig im Voraus nicht limitierter Geschäfte mit sich bringt. Daher begründet die Ermächtigung zur konkret in Frage stehenden Prozessführung nicht eine Handlungsvollmacht gemäss Art. 462 Abs. 1 OR, und daher kann umgekehrt die Ermächtigung zur Prozessführung mit der Möglichkeit zur gültigen Vertretung der juristischen Person im Sinne von Art. 204 ZPO nur an eine Person erteilt werden, die bereits Handlungsbevollmächtigter im Sinne von Art. 462 Abs. 1 OR ist.

In formeller Hinsicht muss sich der in der Schlichtungsverhandlung erscheinende Handlungsbevollmächtigte durch eine entsprechende – d.h. die vorbestehende Handlungsvollmacht bestätigende – rechtsgültig unterzeichnete Prozessvollmacht ausweisen können, und er muss mit dem Streitgegenstand vertraut sein sowie vorbehaltlos und verbindlich handeln können.

c. Faktisches Organ

Das Bundesgericht hat aufgrund der vorstehenden Überlegungen klargestellt, dass ein (nur) faktisches Organ, das im Handelsregister nicht eingetragen und auch kein Handlungsbevollmächtigter im Sinne Art. 462 OR ist, die Auflage des persönlichen Erscheinens im Sinne von Art. 204 ZPO nicht erfüllt.

d. Gewöhnlicher Stellvertreter (Art. 32 OR)

Ein gewöhnlicher Stellvertreter nach Art. 32 OR kann nach dem Gesagten erst recht nicht zum "persönlichen Erscheinen" im Sinne von Art. 204 ZPO ermächtigt werden.

2. Pflicht zum persönlichen Erscheinen im Entscheidverfahren?

Im gerichtlichen Entscheidverfahren – typischerweise nach vorausgegangenem, erfolglosem Schlichtungsverfahren – kann sich grundsätzlich jede Partei, d.h. auch eine juristische Person, durch einen berufsmässigen Rechtsvertreter oder durch einen nichtberufsmässigen Vertreter vertreten lassen (Art. 68 Abs. 1 und 2 ZPO). Der Vertreter hat sich durch eine Vollmacht auszuweisen (Art. 68 Abs. 3 ZPO).

Persönliches Erscheinen ist im gerichtlichen Entscheidverfahren nur erforderlich, wenn es vom Gericht ausdrücklich angeordnet wird (Art. 68 Abs. 4 ZPO). Es ist davon auszugehen, dass die vorstehend erläuterten Grundsätze zum persönlichen Erscheinen der juristischen Person im Schlichtungsverfahren im gerichtlichen Entscheidverfahren nur gelten, falls persönliches Erscheinen gemäss Art. 68 Abs. 4 ZPO angeordnet wurde.

3. Fazit

Die Präzisierungen des Bundesgerichts zum persönlichen Erscheinen der juristischen Person in der Schlichtungsverhandlung gemäss Art. 204 ZPO bringen wesentliche Verschärfungen gegenüber der Praxis zur Zeit der kantonalen Zivilprozessordnungen. Diese sind zu beachten, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden.

Das Bundesgericht ist offensichtlich bestrebt, mit strengen Anforderungen an das persönliche Erscheinen von juristischen Personen sicherzustellen, dass in der Schlichtungsverhandlung entscheidungskompetente Vertreter erscheinen, die tatsächlich in der Lage sind, an Ort und Stelle verbindlich und ohne Widerrufsvorbehalt die Sache durch Vergleich abzuschliessen. Erfahrungsgemäss ermöglichen solche Vertreter tatsächlich eher die vergleichsweise Beilegung der Streitigkeit.

Dr. Benedikt A. Suter