Memorandum - EuGH, Urteil vom 11.09.2019 – C-143/18 –

1.

Entscheidungsgegenständliche Gesetzeslage

Die Vorabentscheidung des EuGH befasst sich mit § 312 d BGB in der vom 08.12.2004 bis 03.08.2009 gültigen Fassung, beigefügt als Anlage 1.

Die Vorschrift regelt das Widerrufsrecht des Verbrauchers bei Fernabsatzverträgen. Nach § 312 d Abs. 3 Nr. 1 dieser Gesetzesfassung erlischt das Widerrufsrecht

„bei einer Finanzdienstleistung, wenn der Vertrag von beiden Seiten auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers vollständig erfüllt ist, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausgeübt hat.“

Nach § 312 d Abs. 5 BGB in dieser Fassung besteht das in § 312 d BGB geregelte Widerrufsrecht nicht bei solchen Fernabsatzverträgen, bei denen dem Verbraucher bereits aufgrund der §§ 495, 499 bis 507 BGB ein Widerrufs- oder Rückgaberecht nach § 355 oder § 356 BGB zusteht.

2.

Bisherige Rechtsprechung des BGH

Die vorgenannten Vorschriften wurden vom BGH bislang in ständiger Rechtsprechung dahin ausgelegt, dass der Erlöschenstatbestand des §§ 312 d Abs. 3 Nr. 1 BGB nicht für im Fernabsatz geschlossene Verbraucherdarlehensverträge gilt.

Beispielhaft hat der Bundesgerichtshof zu dieser Frage formuliert wie im Urteil vom 10.10.2017
– XI ZR 455/16 –, Anlage 2, dort TZ 18:

„selbst dann, wenn es sich …… bei dem Darlehensvertrag um einen Fernabsatzvertrag gehandelt hätte, wäre nach § 312 d Abs. 5 Satz 1 BGB in der zwischen dem 8.12.2004 und dem 03.08.2011 geltenden Fassung das Widerrufsrecht nach § 312 d Abs. 1 BGB in der bis zum 12.06.2014 geltenden Fassung ausgeschlossen gewesen und hätte allein das Widerrufsrecht nach § 495 Abs. 1 BGB bestanden. Entsprechend konnte das Widerrufsrecht …… nicht nach § 312 d Abs. 3 Nr. 1 BGB in der zwischen dem 8.12.2004 und dem 03.08.2009 geltenden Fassung unter den dort genannten Voraussetzungen erlöschen.“

3.

LG Bonn, EuGH-Vorlage vom 09.02.2018 – 17 O 24/17 – (Anlage 3)

Dem Vorabentscheidungsersuchen des LG Bonn lag ein im Jahre 2007 im Fernabsatz geschlossener Verbraucherdarlehensvertrag (Immobiliardarlehen) zugrunde. Die Widerrufsbelehrung enthielt einen Hinweis auf den Erlöschenstatbestand des § 312 d Abs. 3 Nr. 1 BGB, was nach ständiger Rechtsprechung des BGH zur Unwirksamkeit der Widerrufsbelehrung geführt hätte, weil der dieser Erlöschenstatbestand auf Verbraucherdarlehensverträge nach bisheriger Rechtsprechung (s.o) keine Anwendung findet.

Mit Rücksicht darauf, dass § 312 d Abs. 3 Nr. 1 BGB der Umsetzung von Art. 6 Abs. 2 c der Richtlinie 2002/65/EG diente, die nach ihrem Erwägungsgrund 13 vollharmonisierend ist, fragte das LG Bonn an, ob die vorgenannte Richtlinie einer nationalen Rechtsvorschrift oder Gepflogenheit entgegen stehe, die bei im Fernabsatz geschlossenen Darlehensverträgen nicht den Ausschluss des Widerrufsrechts vorsieht, wenn auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers der Vertrag von beiden Seiten bereits voll erfüllt ist, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausgeübt.

4.

Urteil des EuGH vom 11.09.2019 – C-143/18 –, Anlage 4

Der EuGH hat die maßgebliche Vorlagefrage des LG Bonn bejaht. Mit Rücksicht darauf, dass die Richtlinie 2002/65 eine Vollharmonisierung bewirkt, dürfen die Mitgliedstaaten in den harmonisierten Bereichen keine anderen als die darin festgelegten Bestimmungen vorsehen, es sei denn, die Richtlinie sieht dies ausdrücklich vor (EuGH, aaO., Rn. 34).

Im Hinblick auf den Erlöschensgrund gemäß Art. 6 Abs. 2 c der Richtlinie, umgesetzt in § 312 d Abs. 3 Nr. 1 BGB, enthält die Richtlinie keine Bestimmung, nach der ein Mitgliedstaat befugt wäre, in seinem nationalen Recht vorzusehen, dass ein Widerrufsrecht fortbesteht, wenn der Vertrag auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers von beiden Seiten bereits von voll erfüllt ist, bevor er sein Widerrufsrecht ausübt (aaO, Rn. 35 und 36).

Die Richtlinie steht mithin einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegen, die bei einem im Fernabsatz geschlossenen Verbraucher Darlehensvertrag den Erlöschensgrund des §§ 312 d Abs. 3 BGB nicht anwendet (aaO., Rn. 39).

Der EuGH betont, dass das vorlegende Gericht erforderlichenfalls auch eine „gefestigte nationale Rechtsprechung“ abzuändern hat, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit der vollharmonisierenden Richtlinie unvereinbar ist (aaO.). Die Rechtsprechung nach Maßgabe der als Anlage 2 beigefügten BGH-Entscheidung, wonach der Erlöschensgrund des § 312 d Abs. 3 Nr. 1 BGB (a.F.) nicht für im Fernabsatz geschlossene Verbraucherdarlehensverträge gilt, dürfte damit in diesem Punkt zwingend zu ändern sein.

Folge ist ferner, dass auch bei im Fernabsatz abgeschlossenen Verbraucherdarlehensverträgen die Widerrufsbelehrung nicht infolge eines Hinweises auf den Erlöschensgrund des §§ 312 d Abs. 3 Nr. 1 BGB unwirksam wird, weil dieser Erlöschensgrund nach den vorstehenden Ausführungen des EuGH ja gerade besteht und anwendbar ist (aaO., Tz. 46 und Tz. 56). Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass die Information bisher nicht dem nationalen Recht in seiner Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entsprochen hat, wonach in einem solchen Fall der Erlöschensgrund nicht anwendbar sei.

5.

Praktische Konsequenzen

Ein verbraucherkreditrechtliches Widerrufsrecht im Hinblick auf einen Verbraucherdarlehensvertrag ist nach § 312 d Abs. 3 Nr. 1 BGB erloschen unter folgenden kumulativen Voraussetzungen:

  • der Verbraucherdarlehensvertrag ist zwischen dem 08.12.2004 und im 03.08.2009 geschlossen worden
  • der Verbraucherdarlehensvertrag ist im Fernabsatz geschlossen worden
  • der Vertrag ist von beiden Seiten auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers vollständig erfüllt worden, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausgeübt hat (hier kommen vor allem Fälle der vorzeitigen Darlehensablösung auf Wunsch des Verbrauchers in Betracht)

Folge ist, dass die Bank in solchen Fällen nicht mehr auf den Verwirkungseinwand angewiesen ist, sondern den (vorrangigen) gesetzlichen Erlöschenstatbestand nach § 312 Abs. 3 Nr. 1 BGB in der maßgeblichen Fassung geltend machen kann.

Nicht relevant ist die Entscheidung freilich für Immobiliardarlehensverträge, die in der Zeit vom 01.09.2002 bis zum 10.06.2010 geschlossen wurden und bei denen ein Widerrufsrecht bereits nach Art. 229 § 38 Abs. 3 EGBGB mit Ablauf des 21.06.2016 ohnehin erloschen ist. Dagegen ist die Entscheidung insbesondere relevant für alle Verbraucherkredite außerhalb des Immobiliarbereiches, bei denen die o.g. Voraussetzungen vorliegen.

Die Entscheidung des EuGH dürfte ferner auch Auswirkungen auf die künftige Auslegung von § 312 d Abs. 3 und Abs. 5 BGB in den anschließenden Gesetzesfassungen besitzen.

Karlsruhe, den 20.09.2019

Dr. Michael Pap

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht

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