Kann man sich wegen Corona nun von Veträgen nun lösen?

Viele der bereits bestehenden und erst kürzlich entstandenen Vertragsverhältnisse werden erheblich durch die aktuellen behördlichen Anordnungen und Beschränkungen beeinflusst, die für Teilnehmer am Rechtsverkehr weder erwartbar noch zu verantworten sind. Vermehrt stellt sich die Frage, ob die COVID-19-Pandemie einen Fall der „Höheren Gewalt“ darstellt und welche rechtlichen Konsequenzen entstehen. Hierzu möchten wir unseren Mandanten und Geschäftspartnern eine kurze Einschätzung geben:


I. Allgemein zur höheren Gewalt
 

1. Definition

Die Höhere Gewalt ist eine anerkannte Rechtsfigur und wird wie folgt definiert:


„Betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist“
(RGZ 64, 404; RGZ 75, 386, 390; RGZ 101, 94, 95; RGZ 104, 150, 151; RGZ 109, 172, 173; BGH vom 16.05.2017, NJW 2017, 2677).

 

2. Wesentliche Aspekte

a) Wesentliches Tatbestandsmerkmal zur Beurteilung einer höheren Gewalt ist somit die Unvorhersehbarkeit, Unvermeidbarkeit sowie Außergewöhnlichkeit eines konkreten von außen an den Rechtsverkehr herangetragenen Ereignisses. Entscheidend ist dabei nicht, ob das Ereignis selbst unvorhersehbar, unvermeidbar und außergewöhnlich ist, vielmehr kommt es auf das Vorliegen der Voraussetzungen am konkreten Einzelfall an.

Deshalb kann auch nicht pauschal vom Zustand der höheren Gewalt ausgegangen werden. Vielmehr ist auf das konkrete Rechtsverhältnis und die Verteilung der Risikosphären abzustellen.

Grundlegend wird die höhere Gewalt in einem reiserechtlichen Urteil des BGH vom 16.05.2017 (NJW 2017, 2677) behandelt. Dort wird herausgestellt, dass der § 651 j BGB a.F. nach einhelliger Auffassung des BGH ein besonderer Fall der Störung oder des Wegfalls der Geschäftsgrundlage darstellt. Diese Darlegungen lassen Rückschlüsse auf die Anwendbarkeit der Grundsätze in anderen Rechtsverhältnissen zu.


b) Aus diesem Urteil ist ebenfalls ersichtlich, dass neben den bereits genannten wesentlichen Aspekten zur Feststellung einer höheren Gewalt das nicht abwendbare Ereignis nicht in die Risikosphäre einer Vertragspartei fallen darf. Dementsprechend kann nicht von höherer Gewalt ausgegangen werden, wenn das nicht abwendbare Ereignis der vertraglichen bzw. wirtschaftlichen Risikosphäre einer Vertragspartei zuzurechnen ist. Wenn das unabwendbare Ereignis die Vertragsparteien gleichermaßen trifft, kann dies ein Indiz dafür sein, dass die Auswirkungen nicht der einen oder der anderen Risikosphäre zugeordnet werden kann.

 

c) Ein weiterer Aspekt ist ein mögliches Verschulden einer Vertragspartei. Eine selbst verschuldete und hervorgerufene Beschränkung der eigenen Leistungsfähigkeit kann keine höhere Gewalt darstellen. Als Fälle eigenen Verschuldens kommen Missachtungen der behördlichen Empfehlungen in Betracht, wenn dadurch beispielsweise  Infektionsketten im Unternehmen begünstigt wurden und hierdurch erst unternehmerische Handlungsunfähigkeit hervorgerufen wird. Ebenso könnte die schlichte Untätigkeit mit der pauschalen Berufung auf eine Epidemie Grundlage eigenen Verschuldens sein.


d) Allgemein können Ereignisse wie z.B. Krieg, innere Unruhen, Streik, Epidemien oder Naturkatstrophen sowie hoheitliche Anordnungen höhere Gewalt darstellen. Dies sind mithin Ereignisse, die der Sphäre keiner Vertragspartei zuzuordnen sind, sondern von außen auf die Lebensverhältnisse der Allgemeinheit oder einer unbestimmten Vielzahl von Personen einwirken.


Die Rechtsprechung hat in folgenden Fällen eine höhere Gewalt angenommen:

• Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull BGH NJW 2013,1674
• Hurricane BGH NJW 2002,3700
• Reaktorunfall Tschernobyl BGH NJW 1990,572
• Ausbruch der SARS Epidemie

Aus diesen Urteilen wird aber auch klar, dass jedes Rechtsverhältnis konkret zu beurteilen ist. Die tatsächlichen Auswirkungen der potenziellen höheren Gewalt sind auf jede
Leistungsverpflichtungen zu überprüfen.

3. Beurteilung der Corona-Krise


a) Die Covid-19-Krise beruht auf einer Pandemie und stellt als solche einen potenziellen Fall der höheren Gewalt dar. Da jedoch die Krankheit selbst nur in den wenigsten Fällen zu Beschränkungen der eigenen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Vertragspartei führen wird, ist insbesondere auf die hoheitlichen Anordnungen abzustellen. Diese können ihrerseits höhere Gewalt darstellen.

Die Krankheit selbst wird nur Einfluss auf die Leistungsfähigkeit eines Vertragspartners haben, wenn tatsächlich aufgrund einer Vielzahl von Erkrankungen der eigene Betrieb handlungsunfähig gemacht würde. Letztlich wird es aber immer wieder auf die Beschränkungen durch hoheitliche Anordnungen ankommen. Denkbar sind Fälle der fehlenden Möglichkeit von Home-Office-Arbeitsplätzen und gleichzeitiger zwangsweiser Schließung des Betriebes. Gerade die aktuellen „Ausgangssperren“ und faktischen Behinderungen des Handelsverkehrs stellen gewichtige Indizien für das Vorliegen höherer Gewalt dar.

Maßgeblicher Faktor bei der rechtlichen Beurteilung der Corona-Krise wird die Vorhersehbarkeit sein. Es ist zu überprüfen, ob die Umstände, auf die sich die Vertragspartei
später beruft, zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits vorlagen oder zumindest vorhersehbar waren. Dabei ist auf einen subjektiven Maßstab abzustellen. Jedem Teilnehmer am Rechtsverkehr ist es zumutbar, dass er sich zumindest mit Hilfe allgemein zugänglicher Medien informiert. In der aktuellen Lage besteht die Besonderheit, dass sich die hoheitlichen Anordnungen und die Verschärfung der Gefahrenlage äußerst rasant entwickeln.

b) Unproblematisch dürfte die fehlende Vorhersehbarkeit bei bereits in der Vergangenheit angelegten Vertragsverhältnissen sein. Die Vorhersehbarkeit ist dagegen kritisch zu
hinterfragen, wenn die Rechtsbeziehungen erst im Jahr 2020 entstanden sind. Der genaue Zeitpunkt ist maßgeblich. Warnhinweisen und Ankündigungen der jeweiligen Regierung kommt dabei Indizwirkung zu.

In jedem Fall gilt: Jedes Rechtsverhältnis ist gesondert zu betrachten ist. Pauschale Lösungen gibt es nicht.


II. Prüfungsschritte


Zur strukturierten Vorgehensweise wird folgende Prüfungsreihenfolge empfohlen!

1. Existieren im Vertragsverhältnis Klauseln, die Fälle höherer Gewalt mit den entsprechenden Rechtsfolgen regeln (sog. Force Majeure Klauseln)?

Diese Klauseln müssen in der Regel die Fälle der höheren Gewalt zumindest nachvollziehbar benennen. Eine Auslegung hat nach anwendbarem Recht zu erfolgen. Die Auslegung sollte vor allem ergeben, ob mit der Klausel abschließende Regelungen beabsichtigt sind oder nicht.

Diese Klauseln unterliegen ihrerseits der Inhaltskontrolle nach den § 307 ff. BGB. Insbesondere sind die §§ 308 Nr. 3 und Nr. 8, 309 Nr. 8 BGB sowie für den unternehmerischen Verkehr der § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu berücksichtigten.

Vor allem sind die jeweiligen Klauseln daran zu messen, inwieweit sie vom Leitbild der gesetzlichen Regelungen der §§ 275, 311 a, 323 und 313 BGB abweichen. Bei wesentlicher Leitbildabweichung besteht die Gefahr der Unwirksamkeit der Klausel. Das Gleiche wird man annehmen müssen, wenn die jeweilige Klausel einer Vertragspartei das volle wirtschaftliche Risiko im Falle der höheren Gewalt ungerechtfertigt auferlegt.

2. Wenn eine solche vertragliche Klausel nicht vorhanden ist, müssen die anwendbaren nationalen Regelungen herangezogen werden. In Betracht kommen v.a.:


• (vorübergehende) Unmöglichkeit nach § 275 BGB mit der Konsequenz, dass auch die Gegenleistungspflicht nach § 326 BGB entfällt:

Hier kommen insbesondere die subjektive Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB sowie unzumutbare Anstrengungen nach § 275 Abs. 2 BGB in Betracht. Zu beachten ist, dass trotz des Wegfalls der Gegenleistungspflicht nach § 326 BGB Schadensersatzansprüche hiervon nicht berührt werden. Es kommt hier auf ein Verschulden der jeweiligen Vertragspartei an. Demzufolge ist in diesem Fall zu beurteilen, inwiefern die Vertragspartei tatsächlich durch ein unabwendbares Ereignis in der eigenen Leistungsfähigkeit (vorübergehend) verhindert ist und dies auch nicht durch ein eigenes Verschulden hervorgerufen wurde. Entscheidend wird es hier auf die interessengerechte Verteilung der Risikosphären ankommen.

• Störung bzw. Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB:

Nachträglich eintretende höhere Gewalt kann die strengen Tatbestandsvoraussetzungen des § 313 BGB erfüllen. Auch bei der Anwendung des § 313 BGB ist also maßgeblich, dass das die Vertragsgrundlage störende Ereignis nicht in die Risikosphäre einer Vertragspartei fällt. Die für den Vertrag wesentlichen Grundlagen müssen sich nachträglich schwerwiegend verändert haben. Darüber hinaus ist erforderlich, dass der Vertrag bei Vorhersehbarkeit der Umstände, die nicht die höhere Gewalt annehmen oder nur mit verändertem Inhalt geschlossen worden wäre.

Bloße Erschwernisse der Vertragsdurchführung sind hierfür jedoch nicht ausreichend, weswegen im Einzelfall geprüft werden muss, ob für die einzelne Vertragspartei
tatsächlich so erhebliche Leistungshindernisse bestehen, dass ein Festhalten am Vertrag unzumutbar ist.

In der Rechtsfolge ist eine Anpassung der vertraglichen Pflichten möglich. Dies hat den Vorteil, dass nicht zwingend von einer Kündigung bzw. einem Rücktritt ausgegangen
werden muss, was eine komplizierte Rückabwicklung der Verträge zur Konsequenz haben könnte.

• Bei Dauerschuldverhältnissen kommt darüber hinaus die Anwendung des § 314 BGB in Betracht. Die Kündigung ist aus wichtigem Grund möglich. Ein solcher wichtiger
Grund kann v.a. im Vorliegen einer Unmöglichkeit sowie für den Eintritt unvorhergesehener Umstände gegeben sein.

• Bei grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen ist darüber hinaus das UNKaufrecht zu berücksichtigen. Hier sind insbesondere die Regelungen des Art. 79 CISG einschlägig. Diese Vorschrift erfasst auch die Fälle der höheren Gewalt und führt dazu, dass ein Verschulden der Vertragspartei ausgeschlossen sein kann und Schadensersatzansprüche nicht bestehen. Nicht geregelt wird allerdings, ob und wie der jeweilige Vertrag fortgeführt wird. Nach Abs. 5 dieser Bestimmung wird klargestellt,
dass andere Rechte hierdurch nicht berührt werden. Das CISG enthält in den Art. 49 ff und 64 ff. Regelungen zur Aufhebung der Vertragsverhältnisse. Diese entsprechen in
den Voraussetzungen etwa den Kündigungs- bzw. Rücktrittsrechten des BGB.


3. Besteht die Möglichkeit einer Einigung? Denkbar sind vor allem:

• Vorübergehendes Aussetzen der Vertragsverpflichtungen für eine gewisse Zeitspanne in Form von Stundungsvereinbarungen
• Kündigungsrecht nach Ablauf der vereinbarten Zeitspanne um weitere Entwicklungen der Krise abzuwarten und wirtschaftliche Folgen abzufedern
• Zahlungen eines Vergleichsbetrages zur Abgeltung bereits getätigter Aufwendungen


4. Jedem Teilnehmer am Rechtsverkehr ist zu raten, den jeweiligen Geschäftspartner frühzeitig über eventuelle Leistungsschwierigkeiten bzw. -ausfälle zu informieren. Ansonsten können je nach Vertragsgestaltung schon allein wegen verspäteter Informationen Schadensersatzansprüche entstehen.


5. Die Bundesregierung plant diverse, teilweise in bestehende Vertragsverhältnisse eingreifende, Neuregelungen.

Insbesondere gilt nun Folgendes:

• Aussetzung der Leistungspflichten bei Dauerschuldverhältnissen wegen mangelnder Leistungsfähigkeit oder Gefährdung des angemessenen Lebensunterhalts
• Rücktrittsmöglichkeit des Schuldners bei Ausschluss des Leistungsverweigerungsrechts
• Ausschluss des Kündigungsrecht für den Vermieter bei Nichtleistung der Miete mit Vermutungsregelung des Zusammenhangs der Nichtleistung und der Auswirkungen
  der COVID-19 Pandemie
• Stundungsregelungen im Darlehensrecht mit fehlender Kündigungsmöglichkeit des Darlehensgebers wegen Zahlungsverzugs oder wesentlicher Verschlechterung der
  Vermögensverhältnisse
• Neue Regelung der Insolvenzantragspflichten zugunsten der betroffenen Unternehmen
• Neue Möglichkeiten der Abhaltung von notwendigen Versammlungen im Bereich des Gesellschafts-, Vereins-, Genossenschafts-, Wohnungseigentumsrechts

In welcher konkreten Form diese Planungen umgesetzt werden, bleibt abzuwarten.

 

Karlsruhe, den 25.03.2020

 

Christian Schlemmer                                                  Michael Artner                                                             Jan Stiewitz
Rechtsanwalt                                                              Rechtsanwalt                                                               Rechtsanwalt
Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht      Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht
Fachanwalt für Insolvenzrecht
Fachanwalt für Arbeitsrecht

 

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